
Hallo, meine lieben Remote-Realitätsverweigerer!
Hier meldet sich wieder Jörg Tausendfreund, Projektmanagement-Erklärer und Digital-Nomade.
Heute nehme ich mir ein Thema vor, das mir in den letzten Monaten (fast) den Schlaf raubt - und nein, diesmal sind es nicht die endlosen Zoom-Meetings.
Es geht um etwas viel Grundlegenderes:
Die gefährliche Illusion, dass Remote-Arbeit automatisch zu mehr Freiheit und besserer Zusammenarbeit führt.
Lasst mich euch von einem Fall berichten, der symptomatisch für das ist, was ich täglich in Unternehmen erlebe. Die Namen habe ich geändert, die Schmerzen sind echt:
Die TechNova AG, ein mittelständisches Software-Unternehmen, rief mich völlig verzweifelt an. "Hallo Jörg, unser Remote-Setup funktioniert einfach nicht!" (Ach was, und ich dachte, ein Laptop und eine Zoom-Lizenz reichen für die digitale Transformation...)
Das Projekt "CoronaTrack" sollte der große Wurf werden. Ein klassischer Fall von "haben wir uns anders vorgestellt":
Der Produktmanager Adrian versuchte, durch permanente Überwachung die Kontrolle zu behalten. Die Junior-Entwicklerin Laura vereinsamte in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung. Und der Senior Developer Philipp? Der verbarrikadierte sich hinter ausgeschalteter Kamera und schwieg in den Meetings.
Das Interessante?
Alle Beteiligten waren hochqualifizierte Fachleute. Das Problem lag nicht in der Kompetenz - es lag in der fehlenden psychologischen Sicherheit. (Ja, dieser Begriff klingt nach Kuschelkurs, ist aber knallhartes Business-Tool!)
Wisst ihr, was der größte Irrtum beim Thema Remote Work ist? Die Annahme, dass es primär um Technologie geht. "Hauptsache, die Tools laufen!" ist in etwa so klug wie zu sagen "Hauptsache, das Auto hat Benzin" - und dabei zu vergessen, dass man auch fahren können muss.
Was ich bei TechNova vorfand, war ein Paradebeispiel für das, was ich "das Remote-Paradox" nenne:
Je mehr Kontrolle ausgeübt wird, desto weniger Vertrauen entsteht
Je mehr Tools eingesetzt werden, desto weniger echte Kommunikation findet statt
Je mehr Meetings abgehalten werden, desto weniger wird tatsächlich gesprochen
Aber hier kommt's: Nach drei Monaten Beratung (und einigen sehr unbequemen Gesprächen) hat sich das Blatt gewendet. Wie?
Durch drei fundamentale Änderungen:
Psychologische Sicherheit wurde Chefsache
Fehler wurden nicht mehr als Versagen gewertet, sondern als Lernchance
In den Dailys wurde nicht mehr nur Status abgefragt, sondern auch: "Wo brauchst du Hilfe?"
Persönliche Grenzen (z.B. bei Kamera-On-Pflicht) wurden respektiert
Struktur statt Kontrolle
Klare Kernzeiten (10-14 Uhr) für synchrone Arbeit
Asynchrone Kommunikation wurde zur Norm, nicht zur Ausnahme
Dokumentation wurde wichtiger als Dauerüberwachung
Echte statt künstliche Nähe
Quartalsweise Vor-Ort-Treffen für strategische Planung
Informelle virtuelle Kaffeepausen (ohne versteckte Agenda!)
1:1-Gespräche mit echtem Interesse am Menschen
Der Wendepunkt kam, als Adrian (unser Kontroll-Enthusiast) in einem Meeting zugab: "Ich habe Angst, den Überblick zu verlieren." Diese Ehrlichkeit öffnete die Schleusen. Plötzlich trauten sich alle, über ihre Sorgen zu sprechen.
Was können wir daraus lernen?
Remote Work verstärkt, was ohnehin schon da ist - im Guten wie im Schlechten. Fehlendes Vertrauen wird nicht besser, wenn man es digital verpackt. Schlechte Führung wird nicht besser, nur weil sie über Zoom stattfindet.
Meine Empfehlung an euch Projektleiter und Führungskräfte da draußen:
Hört auf, Präsenz mit Produktivität zu verwechseln
Schafft psychologische Sicherheit - sie ist kein Nice-to-have, sondern Business-Grundlage
Seid ehrlich: Remote Work ist keine Technologie-Transformation, sondern eine Kultur-Revolution
Bis zum nächsten Mal.
Jörg Tausendfreund
Projektmanagement-Erklärer & Freund der Grundlagen
P.S.: Und falls jetzt jemand denkt "Das klingt ja alles schön und gut, aber bei uns ist das anders" - Tut mir leid, aber die einzigen Unternehmen, bei denen es "anders" ist, sind die, die noch nicht verstanden haben, dass es genau SO ist.
P.P.S.: Übrigens: Das Team von TechNova hat inzwischen eine Produktivitätssteigerung von 40% erreicht. Nicht durch mehr Kontrolle, sondern durch mehr Vertrauen. (Manchmal ist weniger tatsächlich mehr - wer hätte das gedacht?)
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